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Buchtipp: Der unsichtbare Gartenzaun

Grenzen setzen und wahrnehmen lernen

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Wann immer man sich mit dem Thema beschäftigt, wie eins aus den Rollenklischees raus kommt, ob das jetzt eine:n selbst oder Kinder betrifft, im Hintergrund schwingt immer eine Fähigkeit mit, die es zu lernen gilt: Grenzen setzen. Damit ist nicht gemeint, den Kindern Grenzen zu setzen. Gemeint ist eigene Grenzen, gegenüber übergriffigem oder bevormundendem Verhalten anderer Menschen, zu setzen. 

Buchtipp: Mein unsichtbarer Gartenzaun

Klischees und stereotype Zuschreibungen erheben immer einen Anspruch an eine:n, wie man sich aufgrund der Einteilung in eine bestimmte Kategorie zu verhalten hat bzw. zu sein hat. Demgegenüber müssen wir uns oft abgrenzen und sind gezwungen unsere Grenzen zu artikulieren. Dies will gelernt sein. Vor allem müssen wir zuerst lernen, diese Grenzen wahrzunehmen und die damit verbundenen Gefühle entsprechend einzuordnen. Das fällt uns teilweise für uns selbst schon schwer. Hinzu kommt, dass wir lernen müssen, auch die Grenzen anderer, zum Beispiel jener der Kinder, zu respektieren. Keine leichte Aufgabe, da wir oft gelernt haben, insbesondere über Rollenklischees, diese Grenzen zu ignorieren und darüber hinweg zu gehen. Doch Grenzen setzen lernen ist wichtig, für die Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse und im Speziellen auch im Zuge der Präventionsarbeit. 

Daher möchte ich euch heute das Buch „Mein unsichtbarer Gartenzaun“ von Michaela Datscher ganz besonders an Herz legen. Es ist ein Buch nicht nur für Kinder, sondern auch für Eltern, Großeltern und Pädagog:innen, um Grenzen wahrnehmen und setzen zu lernen. 

Ich hatte die Möglichkeit mich mit ihr darüber näher zu unterhalten. 

Autorin Michaela Datscher im Interview

„Liebe Michaela, du bereitest das Thema rund um Grenzen wahrnehmen und Grenzen setzen mit dem unsichtbaren Gartenzaun sehr anschaulich auf. Bei der Lektüre des Buches ist mir sofort aufgefallen, wie wichtig das nicht nur für die Präventionsarbeit ist, sondern auch für – das nicht ganz so schwere Thema – den Umgang mit stereotypen Zuschreibungen.“

Michaela: „Ja, das greift alles ineinander. Wie wir mit Kindern oder überhaupt mit Menschen umgehen, was wir für ein Menschenbild haben, das zieht sich durch alle Bereiche. Egal ob das jetzt Kleidung ist, oder Sprache, Spielzeug, Sexualität oder Prävention. Die Botschaften, die wir übermitteln, drücken wir in allen Bereichen unseres Lebens aus.“

Profilfoto Michaela Datscher"Dein Buch bestärkt Kinder „Nein“ zu sagen, ruft aber auch den Bezugspersonen ins Gedächtnis, wie wichtig es ist, Kindern in dem Punkt auch feinsinnig zuzuhören und auf sie zu achten. Gibt es gemäß deiner Erfahrung Unterschiede bei den Eltern von Buben gegenüber Eltern von Mädchen, wie diese auf frühe Gewaltschutz-Programme reagieren?“

M: „Da muss ich an eine Rückmeldung einer Lehrerin denken, die ich im Zuge eines Workshops, den wir gemeinsam umgesetzt haben, bekommen habe. Vielleicht kurz zur Erklärung: im Rahmen der Workshops, die ich mit den Kindern mache, gibt es natürlich immer auch ein Vorgespräch bzw. einen Informationsabend mit den Eltern, da es ganz wichtig ist, diese hier miteinzubeziehen. Und die Lehrerin bemerkte beim Infoabend mit großem Erstaunen, dass ausschließlich Mädchen-Mütter anwesend waren. Also ja, es ist davon auszugehen, dass es Unterschiede in der Wahrnehmung der Wichtigkeit gibt. Wobei ich sagen muss, dass ich das oft nicht so direkt erfahre, da ich die Gruppen ja nicht so gut kenne und häufig nicht nachvollziehen kann, ob das jetzt Buben- oder Mädchen-Eltern oder Eltern von nicht-binären Kindern sind. 

Was mir positiv auffällt: als ich vor 15 Jahren mit den Präventions-Workshops begann, kamen ausschließlich Mütter zu den Infoabenden. Jetzt sind auch schon immer mehr Väter dabei.“

„Das heißt, die Vermutung liegt nahe, dass Gewaltschutz ein Thema ist, das als nicht so relevant für Buben wahrgenommen wird.“

M: „Ja, ich denke, das kann man so sagen. Was ganz klar ist, Burschen kriegen nach wie vor, auch 2022, andere Botschaften als Mädchen. Das heißt, dass sie eine andere Sprache erleben, dass wir anders mit ihnen umgehen und dass sie auch in der Prävention anderen Botschaften gegenüber stehen. Hier ist immer noch das Klischee ganz stark: Mädchen bzw. Frauen sind Opfer und Buben bzw. Männer sind Täter. Kurz anmerken möchte ich an der Stelle, dass ich diese Begriffe, Täter und Opfer, sowieso nicht gerne mag, aber sie sind eben sehr geläufig. Es gibt bei den angezeigten Fällen ganz wenige Täterinnen, wobei jedoch viele Forschungen darauf hinweisen, dass 20% bis 25% der Übergriffe durch Frauen passieren. Ich glaube, dass diese Diskrepanz auch damit zu tun hat, dass Kindern, die von einem Übergriff durch eine Frau erzählen, aufgrund unserer gesellschaftlichen Zuschreibungen oft nicht geglaubt wird. In unseren Köpfen ist einfach das Bild sehr stark: Übergriffe passieren von Männern, denen auch zugeschrieben wird, dass sie immer sexuelle Lust verspüren. Frauen werden dagegen überwiegend mit Fürsorge und liebevollem Kümmern assoziiert, weshalb man sich oft gar nicht vorstellen kann, dass auch Frauen übergriffig handeln. Fakt ist: es passiert durch Frauen genauso. Fakt ist auch, dass nicht nur Mädchen Opfer von Übergriffen sind, sondern – wie wir mittlerweile wissen – Buben genauso betroffen sind. Das Bewusstsein ändert sich zwar schon. Die Betroffenheit von Buben ist präsenter geworden. Aber es ist nach wie vor auffällig, dass die angezeigten Fälle wesentlich niedriger liegen, als die Dunkelfeld-Zahlen annehmen lassen. Diese Diskrepanz gibt es natürlich auch bei Mädchen, doch bei Buben wird davon ausgegangen, dass diese wesentlich höher liegt, weil es ihnen noch sehr viel schwerer fällt darüber zu berichten. Hier stehen auch ganz klar die Botschaften im Weg, die Buben bekommen: dass ein Bub sich wehren und Stärke zeigen können muss. Außerdem gibt es die Zuschreibung, gerade bei älteren Jungen, dass es ihnen vielleicht sogar gefällt. Für Buben ist es hier sicher noch um ein Vielfaches schwieriger sich von diesen Zuschreibungen abzugrenzen.“ 

„Das spiegelt sich auch in meinen Erfahrungen bzw. Beobachtungen wider und es gibt auch Studien, die darauf hinweisen, dass für Buben hier noch sehr viel engere Grenzen gezogen werden, als für Mädchen. Auch im Bereich der Kleidung haben Mädchen prinzipiell einen größeren Spielraum als Buben. Ich habe auch beobachtet, dass es von Seiten der Eltern hier ein starkes Bedürfnis gibt, Kinder gegenüber potentiellem Mobbing und Diskriminierung zu schützen. Ich kann das sehr gut verstehen und nachfühlen, aber auf der anderen Seite: halten wir sie dann dadurch nicht auch wieder an, den gesellschaftlichen Zuschreibungen zu entsprechen, da dies eine vermeintliche Sicherheit verspricht?“

M: „Das ist eine Schwierigkeit mit der sich tatsächlich viele auseinandersetzen müssen. Ich denke hier geht es auch sehr viel um Bewusstseinsbildung, dass man immer wieder darüber mit anderen redet und andere Eltern ins Boot holt. Wir vergessen bei dieser ganzen Thematik auch auf inter Kinder, auf trans Kinder und nicht-binäre Kinder. Nach meiner Erfahrung gehen Kinder meistens sehr offen damit um, wenn wir sie nicht zu sehr mit unseren Stereotypen aufladen. Ich denke Aufklärung auf Augenhöhe ist hier sehr wichtig. Mit anderen Eltern reden, sie mit ins Boot holen und die Sorgen, die sie haben ernst nehmen. Ich verstehe natürlich voll und ganz die Bedenken, dass das Kind verspottet oder ausgelacht wird. Doch wenn wir beispielsweise ausdrückliche Wünsche von Kindern, die nicht in die Bekleidungsschablone passen, nicht erlauben, nehmen wir ihnen auch sehr viel an Erfahrungen und Ausprobieren weg. 

Ich denke es ist schon viel gewonnen, wenn wir von Anfang an Vielfalt anbieten. Beim Spielzeug, bei Büchern, bei Kleidung. Wenn alle im Großen und Ganzen das gleiche angeboten bekommen und selbst frei wählen können, ist schon ein wichtiger Schritt passiert. Es geht nicht darum, alles richtig zu machen. Aber wenn es uns gelingt, immer wieder innezuhalten und hinzuschauen: „Was sind denn die Botschaften, die ich gerade vermittle und was bewirken diese Botschaften?“ – dann ist das ein großer Schritt in die richtige Richtung und wir können viel erreichen.“

„Ich habe das Gefühl, dass vielen Menschen noch nicht so bewusst ist, welche Botschaften mit der gängigen Kinderkleidung vermittelt werden und welch prägendes Sprachrohr Kleidung eigentlich ist bzw. sein kann. Dabei geht es jetzt nicht allein um das Motiv an sich, sondern auch um die Reaktion die dieses Motiv beim – oft erwachsenen – Gegenüber erzeugt. Die Reaktion ist eine andere, wenn ein langhaariges Kind ein Dino-Shirt trägt oder ein Glitzer-Einhorn-Kleid. Und diese Reaktion hat durchaus eine Wirkung auf das Kind.“

M: „Ja, das stimmt. Es ist ein Faktor, dass Buben ganz andere Botschaften erhalten, wenn sie irgendwohin kommen – zum Beispiel zum Verwandtenbesuch. Bei Buben heißt es dann oft: „Oh, du bist schon ein Großer“ während es bei den Mädchen ganz oft ums Aussehen geht. Es sind ganz andere Begriffe, die hier verwendet werden. Ich bin mir auch sicher, dass das viel bewirkt. Und ja, Kleidung ist ein Statement nach Außen. Unabhängig von Farbe und Aufdruck kommt noch dazu, dass sie vor allem in der Mädchenabteilung manchmal so geschnitten ist, dass man sich gar nicht mehr richtig bewegen und spüren kann. Oder wenn das Kind angehalten wird, das weiße Kleid oder die weiße Hose nicht schmutzig zu machen. Auch das sind Botschaften: ‚was kannst du mit deiner Kleidung machen und was nicht und was kann ich mit meiner Kleidung machen und was nicht'“

„Noch zum Thema Kinder stärken: was würdest du sagen, ist aus Elternperspektive wichtig, um Kinder zu stärken?“

M: „So annehmen wie sie sind. Zu schauen, wo die Stärken des Kindes sind und diese fördern und unterstützen. Da geht es jetzt auch gar nicht um den schulischen Kontext. Oft wird meiner Meinung nach viel zu sehr darauf geachtet, was das Kind jetzt in der Schule noch nicht so gut kann. Es geht darum mehr Augenmerk darauf zu legen, was gut geht, als darauf was noch nicht so gut geht. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, Kinder Dinge ausprobieren zu lassen und nicht alles für sie übernehmen. Das ist für uns Eltern oft schwierig, da wir sie beschützen wollen und wir da sein wollen für sie. Aber natürlich lernen wir – auch wir Erwachsene – sehr viel über die Erlebnisse, bei denen uns etwas gut gelungen ist. Doch wenn ich immer jemanden habe, der die Dinge für mich erledigt, dann kann ich auch keine Erfolgserlebnisse haben. Eigene Erfahrungen machen ist in dieser Hinsicht auch sehr wichtig. Es gibt in jedem Geschehen Anteile, die gut funktioniert haben. Wenn wir da den Blick darauf hinrichten und bei jenen Anteilen, die nicht so gut geklappt haben gemeinsam überlegen, was man vielleicht besser machen könnte, erleben die Kinder mehr Selbstwirksamkeit. Das kann zum Beispiel abends bei einem gemeinsamen Rückblick auf den Tag sein oder auch in einem anderen Setting erlebt werden. Bewusst Zeit dafür nehmen ist wichtig und dem Kind auch den Raum dafür geben, dass es stolz auf seine Errungenschaften sein kann. Hier können bereits kleine Dinge für Kinder große Kraft haben.

Aber ganz wichtig ist wie gesagt: so annehmen wie sie sind. Sie so akzeptieren, so sehen und so lieb haben wie sie sind, auch wenn wir vielleicht ein anderes Bild davon haben, wie sie sein sollen oder was sie können sollen. Dies zu reflektieren ist wichtig, sich bewusst machen, es ist gut so wie sie sind, jede:r einzelne von uns ist gut so wie die Person ist – dann geben wir ihnen ganz viel für die Zukunft mit.“

„Abschließend noch eine Frage zur Entstehungsgeschichte deines Buchs: ich habe gelesen, es ist die Essenz deiner jahrelangen Tätigkeit als Sozialberaterin und Sexualpädagogin. Was hat den Anstoß gegeben, dieses Buch zu schreiben?“

M: „Richtig. Die Idee zu diesem Buch hat sich aus der Arbeit heraus entwickelt. Konkret im Zuge eines Erwachsenenseminars für Pädagog:innen, wo ich dann gefragt wurde: „Du, diese Aufklärung und deine Botschaften sind so richtig und wichtig. Aber wie erkläre ich das meiner Schwiegermutter?“ Das hat den Anstoß gegeben einen Weg zu finden, das Thema zugänglich zu machen, so dass man in der Familie darüber reden kann. Mit dem Buch hat man dann etwas in der Hand, das man gemeinsam lesen und durchblättern kann und das die Tür für Gespräche öffnet. Mir war bzw. ist dabei auch wichtig, dass es etwas ist, das nichts verbietet, sondern das ermöglicht und stärkt. Es war viel Arbeit und viel Aufwand, aber schließlich konnten wir das Buch im Eigenverlag herausgeben. Mittlerweile sind wir auch bereits bei der zweiten Auflage, in der wir auch versucht haben, ein geschlechtsneutrales Kind abzubilden. Ich werde auch oft gefragt, warum die Hauptfigur ein Bub ist, da Mädchen ja häufiger Opfer von sexuellem Missbrauch werden. Da muss ich dann sagen: genau aus dem Grund. Um aufzuzeigen, dass es eben auch Buben passiert, dass auch sie schützenswert sind und uns Erwachsene und unsere Unterstützung brauchen.“

„Vielen Dank, liebe Michaela, für das spannende Gespräch!“

Hier gibt’s weitere Infos zur Autorin und zum Buch „Mein unsichtbarer Gartenzaun 

Buchseite aus der unsichtbare Gartenzaun

Porträtfoto: © Michaela Datscher

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